Aufslippen 2006 im TSC, oder „Mein schönstes Wochenenderlebnis“
Schulaufsatz der 27. Klasse der TSC-Volkschule „An der Malche“

Da stehe ich nun und friere. „November, Vier, 2006, Null-Sechunderfünfundvierzig!“, wie Martin, mein alter Schulkumpel und Edel-Spieß der 3. Grenadierbrigrade „Getarnter Stein“ der Westfahlen-Kaserne Münster-Süd in einer solchen Situation bemerken würde. Ich würde ihm wohl antworten, ich fühle mich noch etwas fatigiert und bevorzuge die behagliche Wärme der feinen südwestschlesischen, von unschuldigen Jungfrauen handgezupft und mundverlesenen Edeldaunen, die bis vor wenigen Minuten meinen Astralkörper umschmiegten.

Ich will ihm dann die Vorteile eines Aufenthaltes in der Nähe des hübschen Mädchens unter der schon beschriebenen Daunendecke erläutern, bevor er mich mit den üblichen militärisch knappen Beschimpfungen wie „Weichei!“, „Warmduscher !“ oder „ADAC-Mitglied!“ versucht für den einsetzenden Nieselregen zu begeistern. Obwohl ich ihm dann auseinandersetze, dass mit mir nun so gar kein Krieg zu gewinnen sei und ich ja deshalb auch Zivi gemacht hätte, was bei meinem oliv gekleideten Gegenüber zu roten Flecken auf Hals und Stirn, starkem Husten und dann einem Wutsausbruch à la Nikita Krustchow führt, hilft es nichts, ich friere weiter. Und es ist immer noch dunkel, als mich ein kurzes Hupen aus Münster zurück nach Tegelort reißt und somit aus dem Güllegürtel der Nation vor die Beatestraße 28 beamt. Verwirrt schrecke ich hoch. Achja, heute ist Aufslippen im TSC, Bodo holt mich ab und das Hupen ist dringend mit seinem breiten Grinsen und Marinas aufmunternd-spöttischem Kommentar der Marke „Na, Du schläfst wohl noch.“ verbunden. Ja, beim Neptun, ich schlafe noch, es ist ja auch noch unzivilisiert früh und dunkel, es ist kalt und es regnet. Und außerdem war ich irgendwie gerade in Münster und sollte durch den Schlamm robben... Danke, Bodo!

Im TSC ist der Kran schon zugange. Wir stecken die Traverse zusammen und machen uns daran, Wulfs Schiff auf den Bock zu setzen. Der Kranfahrer lässt nebenbei fallen, dass er sowohl zum ersten Mal auf diesem Typ von Kran sitzt, als auch das erste mal Schiffe hebt. Na super, beim ersten Mal tat’s noch weh, kann ja heiter werden. Die Sonne geht auf. Jedenfalls astronomisch gesehen. Viel bekommen wir davon nicht mit, denn die Platzierung von Macho auf seinem Bock und eine unerquicklich dicke Wolkenschicht lassen dieses Ereignis, welches vor Urzeiten laut heidnischen Kulten Menschenopfer bedurfte, relativ unspektakulär und unblutig über uns hereinbrechen.

Als sich die ersten Tropfen aus den grauen Schleiern über uns lösen, steht gerade Peters Boot vorm Schuppen. Peter verlegt noch schnell seinen optimal befestigten Mast, da der Kran sich sonst nicht mehr drehen kann. Eine X79 schwebt ein. Während ich mir einen Kaffee hole, stelle ich mit Lutz fest, dass wir etwas hinter dem Zeitplan zurückliegen und es bei gegebener Geschwindigkeit und der weiterhin gegebenen Zahl der Schiffe bestimmt bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, naja, wenigstens bis zum ebenfalls als relativ unspektakulär erwarteten Sonnenuntergang, dauern würde, bis alle Schiffe ihren Platz außerhalb des gewohnten und bevorzugten Nasses gefunden hätten. Aber, was soll man tun? Besser als Münster-Süd und Schlamm und der Kaffee ist heiß und stark und tut gut.
Wieder an der wunderbar frischen Luft, die sich glücklicherweise inzwischen vom Regen befreit hat, beginnt der Transport der Schiffe durch den Schuppen. Boot nach Boot wird auf dem Rungenwagen vertäut, den Slip hinauf und in den Schuppen hinein gezogen, um dann die letzten Meter per Hand bis in die als Orchestergraben bezeichnete Grube vor der Winde geschoben zu werden. Dort übernimmt sie der Kran und verfährt sie zu ihrem Liegeplatz für die nächsten vier Monate. Ein glücklicher Umstand lässt uns nun die am Morgen verlorene Zeit wieder aufholen. Der Baum, der an der Ecke vom Schuppen stand, hatte starken Pilzbefall und war nur wenige Tage zuvor von Baum-Bernd gefällt worden. Und obwohl Hans in seiner Funktion als Grüner Daumen des TSC den Schmerz des Verlustes von 156.789 Blättern samt dazugehörigen Ästen und Stamm noch gar nicht ganz verwunden hat, freut er sich an diesem Nachmittag, dass der Kran Schiff um Schiff über das Dach des Schuppen hebt und mit ihnen nicht wie in den letzten Jahren über die Straße fahren muss. Denn für Hans und mich wird es damit leichter, die Schiffe an langen Leinen geführt ruhig und ohne schwankende Gefahr auf den Bock zu platzieren.

Immer wieder gehen wir nach erfolgreicher Ablieferung zurück zum Orchestergraben, um die nächste gestrandete Windsbraut in Empfang zu nehmen. Doch als Gerlinde kommen soll, höre ich mit einem Mal ein lautes, knirschendes und knackendes Geräusch, das direkt aus der Winde kommt. Ein Blick genügt, das Unheil zu erfassen: „Stopp! Stopp! Ihr habt einen Überläufer!!“ brülle ich in den Schuppen. Nicht, dass wir nunmehr vom JSC unterwandert wären und einen Spion auf frischer Tat ertappt hätten, in der Winde wickelt sich das Seil falsch auf und spult sich neben der Trommel um die Achse. Benn schaltet ab, Gerlindes Schiff kommt zum stehen, den Kiel immer noch im 10° kühlen Nass. Die gesamte Schuppenmannschaft kommt im Laufschritt zur Winde und steht ratlos und leise fluchend davor. Ungläubiges Staunen, wie ein solcher Vorfall bei der gerade neu eingestellten, gewarteten und installierten Maschine denn so möglich sei. Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Aber das dann doch ist. Christian und Bommel zücken das Werkzeug und machen sich mit Bodo und Gralf an die Zerlegung des mechanischen Übeltäters. Der Kranfahrer macht einen Jux und widmet sich dann breit grinsend über die unverhoffte Pause seinem Brötchen.

Gerlinde hockt derweil noch immer an Bord eines halbnassen Schiffes und schaut argwöhnisch in den Schuppen. Und jetzt wird klar, warum Segeln ein Sport ist. Alle Mann anfassen und ziehen! Mit vereinten Kräften geht es los, man stemmt sich in den Betonboden des Schuppens und zerrt die Delanta vom Sommer in den Winter. Das laute Gejohle als der Orchestergraben erreicht ist, lässt den Kranier fast sein Weizengebäck verschlucken. Missmutig schwingt er sich wieder in seinen Liegesessel und lässt den Diesel an. Kurze Zeit später thront La Belle auf dem wohl schwersten Bock, den hoffnungsvolle Hufschmiede je erschaffen haben.

Derweil wird man im Schuppen pragmatisch. Es wird eine kurze Brainstorming-Runde abgehalten. Also was haben wir denn: Eine kaputte Winde, Schiffe, die im Wasser sind, die Tatsache, dass sie dort nicht mehr hingehören, einen gelangweilten Kranfahrer, eine begrenzte Ressource an Sonnenlicht, eine nahezu unbegrenzte Ressource an dumm herumstehenden Kameraden und –für einen Segel-Club durchaus typisch- jede Menge Tauwerk. Die sich unmittelbar formierende Task-Force „Pull-It!“ fasste einen tollkühnen Plan und entscheidet, die Zeit bis zur vollständigen Wiederherstellung der mechanischen Unterstützung, die Schiffe per barer Muskelkraft dem nassen Element zu entreißen. Begeisterung macht sich unter den Anwesenden breit. Schnell ist Draht durch Dynema ersetzt und es kann losgehen. Kräftig in die Hände gespukt und herangetreten. Stolz schauen sich die Recken um. Auf der Terrasse finden sich die ersten Schaulustigen ein und darunter auch ein paar weibliche. Das gibt der Mannschaft einen wahren Motivationsschub. Ja, das ist wahre Männersache, Muskelspiel, Mann gegen Natur, Mensch gegen Maschine. Man fühlt sich an Otto Ernst erinnert: Ja sagt’s Mutter, sist’s Uwe! Mit angestrengter Mine und geschwelltem Bizeps stemmen sich die Helden in die Last. Und diese bewegt sich, es ruckt, es läuft. (Und wie es läuft, die Kraft ist so groß, dass Winnis Schiff auf dem Rungenwagen rutscht und sich dabei eine Relingsstütze verbiegt. Wow, sind wir stark und sorry Winne!) Der Gemeinsinn wird in Newton und Kilojoule gemessen. Stolz macht sich breit. Und so mancher macht sich Hoffnung, dass mit genügend ausstehenden Schiffen vielleicht auch der eine oder andere Zentimeter Bierbauch an den Club zurückgegeben werden kann.

Doch daraus wird nichts. In mühevoller Kuhfuss-Arbeit hat die Heavy Metal Crew das Abdeckblech des Getriebes ausgebaut und das verknäulte Seil vom falschen Wege abgebracht. Und nachdem die letzten unbedeutenden Kinken mittels Hammer und Schlagholz beseitigt sind, nimmt die Winde den Dienst wieder auf. Der Strom der Schiffe fließt wieder und der Kranfahrer begreift schnell, dass Brötchenessen und TSC nicht wirklich kompatibel ist.
Nach diesem Ereignis drängt sich eine bis dato geradezu vernachlässigte und doch so offensichtlich auf der Hand liegende Idee auf, mit der geradezu prospektiv das Ansehen des gemeinen TSC-Männchens bei seinem Weibchens gesteigert und so manche Beziehung wahrscheinlich in ganz neue Dimensionen geführt werden kann. Denn das TSC-Weibchen ist über das sich jedenfalls kurzfristig abzeichnende muskulös six-pack-bepackte Ergebnis des diesjährigen Aufslippens hocherfreut und träumt schon, von festen Armen gehalten zu werden. Es sollte überlegt werden, ob ein Antrag auf der nächsten Mitgliederversammlung Erfolg hätte, in Zukunft jedes zweite Schiff per Hand heraufzuziehen. Beim folgenden Anblick der inzwischen furchtbar erschöpften Möchte-gern-Arnolds, die die verlorenen Kalorien schnell in gewohnter Weise wieder zuführen, sollte man allerdings einen parallelen Entzug des männlichen Stimmrechts ebenfalls in Betracht ziehen.

Bizeps hin, Quadrizeps her, die Winde hält durch und um kurz nach fünf hat auch der Kobold Pumuckel trockene Füße. Pünktlich geht die Sonne astronomisch präzise und wie erwartet unspektakulär unter. Zufrieden dreht Flo das Licht aus. Jetzt kann’s frieren sagt er zu mir. Ich lächele, denn ich freue mich aufs frieren. Nicht wegen Martin und dem Schlamm in Münster-Süd, sondern wegen des Eises und dem DN-Schlitten.

Kai Jürgens